Frankreich befindet sich an einem Wendepunkt: Die im Frühling bevorstehenden Präsidentschaftswahl sowie Parlamentswahlen bieten eine Gelegenheit eine Bilanz des scheidenden Präsidenten zu ziehen und die politische Landschaft zu beleuchten.
Als Emmanuel Macron vor fünf Jahren zum jüngsten Präsidenten der V. Republik gewählt wurde, brachte er damit das bereits angeschlagene, etablierte Parteiensystem in Frankreich zur Implosion. Er wollte eine neue politische Bewegung gründen, die weder rechts noch links sein sollte und versprach, mit einem neuen Stil wieder Vertrauen in die Politik zu schaffen. Auch wollte er Europa neue Impulse geben. Nicht wenigen galt er seinerzeit als Hoffnungsträger und moderner Reformer. Doch nach dem anfänglichen Höhenflug ist der dynamische Staatschef auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Die Gelbwestenbewegung, massiver Widerstand gegen die geplante Rentenreform, der anhaltende islamistische Terrorismus und nicht zuletzt die Corona-Pandemie: Erst enttäuschte der junge Präsident mit einem brutalen Reformprogramm, das schnell Steuererleichterungen für die Bestverdienenden umsetzte, und dann vor allem Zumutungen und Einschnitte für den größten Teil der Bevölkerung vorsah - was u.a. zur Gelbwestenbewegung führte. Und schnell musste sich Macron dann vor allem als Krisenmanager denn als Gestalter beweisen. Und statt als Versöhner, steht er heute als entzauberter Präsident da, der seine Landsleute nicht geeint, sondern gespalten und weiter Vertrauen in die Politik verspielt statt zurückgewonnen hat - und der weit hinter seinen selbst gesteckten Zielen in vielen Bereichen, vor allem beim Klimaschutz, zurückgeblieben ist.
Trotz all dieser Enttäuschungen hat er gegenwärtig die besten Chancen, wiedergewählt zu werden. Das hat zum einen damit zu tun, dass er Frankreich mit einem umfangreichen Hilfs- und Unterstützungsprogramm letztlich nicht so schlecht durch die Krise gebracht hat - aber insbesondere mit der Schwäche der politischen Konkurrenz.
Im rechten politischen Spektrum scheint es derzeit vor allem einen Wettbewerb darum zu geben, wer weiter oder noch weiter rechts steht. Marine Le Pen und Éric Zemmour heizen mit ihren radikalen, rassistischen und menschenfeindlichen Tönen die Stimmung im Land auf, wobei Marine Le Pen im Vergleich zu Éric Zemmour schon fast als gemäßigt und salonfähig erscheint. Auch die Kandidatin der konservativen Républicains, Valérie Pécresse, schreckte nicht davor zurück, sich in einem Meeting explizit auf die Verschwörungstheorie des „Großen Bevölkerungsaustausches“ zu beziehen, bei der vor dem Verdrängen der weißen Mehrheitsgesellschaft durch muslimisch geprägte Bevölkerungsteile gewarnt wird. So versucht sie bewusst mit Mehrdeutigkeit und Anleihen ans extrem rechte Wording Zemmour und Le Pen zu überholen.
Das linke politische Spektrum zeigt sich tief gespalten, insbesondere die Sozialisten sind nun mit zwei Präsidentschaftskandidatinnen vertreten, der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo wie auch der früheren Justizministerin Christiane Taubira, die beide nach gegenwärtigem Stand kaum die 5 %-Hürde erreichen werden, die nötig ist, um überhaupt eine Wahlkampfkostenerstattung für die kostspieligen Kampagnen zu bekommen.
Derweil kämpfen der Kandidat der französischen Grünen, Yannick Jadot, sowie der Kandidat der weit links stehenden France Insoumise, Jean-Luc Mélenchon, um den ersten Platz im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen, mit jeweils um die 6-8 %. Das wird aus jetziger Sicht kaum reichen für den Einzug in die Stichwahl. Allerdings wird die Platzierung in der ersten Runde entscheidend sein für die Aufstellung und das Anführen entsprechender Listen für die Parlamentswahlen im Juni. Diesen Parlamentswahlen könnte diesmal eine ganz neue und entscheidende Bedeutung zukommen, da Emmanuel Macron zwar derzeit der Favorit für die Präsidentschaftswahlen ist - er aber kaum wieder eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen bekommen dürfte. Vielmehr müsste er eine breitere Mehrheit bilden - oder sogar mit einer von der Opposition angeführten Mehrheit in einer sogenannten Cohabitation regieren.
Noch hat sich Emmanuel Macron nicht als Kandidat erklärt. Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit: Bis zum 4. März müssen 500 Unterschriften von lokal und regional Gewählten, wie zum Beispiel Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, eingereicht werden. An einer Kandidatur des jetzigen Präsidenten gibt es allerdings keine Zweifel. Unklarer ist, wohin Emmanuel Macron in Zukunft mit Frankreich in den nächsten fünf Jahren will: Bekannt sind vor allem sein Plan für eine umfangreiche Renaissance der Atomkraft einschließlich des Baus neuer AKWs als vermeintliches Mittel zum Klimaschutz und als vorgeblichen Versuch, damit Frankreichs Glanz und Größe zu demonstrieren. Ansonsten gibt es noch einen Plan "Frankreich 2030", der nach der Logik industrieller Strukturpolitik der 70er Jahre aufgesetzt ist. Und sonst? Die verkündete Absicht, einige Reformen, wie eine dann deutlich abgespeckte Rentenreform, weiter voranzutreiben. Am überzeugendsten sind noch die Ziele und Pläne des Noch-Präsidenten, die Europäische Union und ihre "strategische Souveränität" weiter zu stärken - auch wenn die französische Ratspräsidentschaft derzeit vor allem als willkommene Bühne für den Wahlkampf des Elysée-Hausherrn dient. Zu punkten versucht Emmanuel Macron vor allem mit der deutlichen wirtschaftlichen Erholung des Landes sowie dem Umfeld der verschiedenen Krisen - zu denen jetzt noch die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine hinzukommen - angesichts derer er zunehmend als der einzig verlässliche Kapitän in schweren Wassern erscheint.
In jedem Fall sind die Herausforderungen für die kommenden Jahre immens: Ob Wirtschaftsreformen, die Erneuerung der Sozialsysteme oder das Erreichen der Klimaschutzziele des Pariser Abkommens sowie der Realisierung des European Green Deal und eines klimaneutralen Europas bis spätestens 2050 ... Frankreichs Regierung steht vor großen Aufgaben. Doch bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der Druck von Rechtsaußen die politische Kultur verschiebt und die eigentlich wichtigen Zukunftsfragen nicht wirklich thematisiert werden. Umso verheerender für Frankreich und Europa wäre es entsprechend, wenn es am Ende doch eine rechtsextreme Kandidatin wie Marine Le Pen oder ein rechtsextremer Kandidat wie Éric Zemmour in den Elysée schaffen könnten…
Viele gute Gründe also, diesen Wahlkampf in Frankreich für die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen genauer in den Blick und unter die Lupe zu nehmen. Dazu will dieses Dossier einen Beitrag leisten.
Bonne lecture!